Im Leben gibt es immer Krisen. Kleine und große, persönliche und globale, und leider auch katastrophale. Manche lassen sich verhindern, andere nicht, und dann kommt es darauf an, aus den Krisen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Bei den aktuellen großen Krisen scheint allerdings geradezu eine Obsession zu bestehen, das Gegenteil zu tun. Das zeigt sich gerade sehr vehement an den Folgen des Kriegs in der Ukraine.

Der Angriff Putins und seiner Schergen auf die Ukraine wirft zahlreiche globale wie regionale Herausforderungen auf, auf die es Antworten braucht. Dabei zeigt sich, dass sich Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft allzu oft auf Scheinlösungen einlassen und Weitblick, Verantwortung und Mut für den notwendigen Systemwandel vermissen lassen. Besonders widerlich wird es, wenn der schreckliche Krieg gegen die Ukraine dafür instrumentalisiert wird, gesellschaftlich dringend notwendige Transformationen zugunsten des eigenen kurzfristigen Profits auszuhebeln.

Beispiel Energie:

Seit Jahrzehnten haben es europäische Staaten verabsäumt, eine nachhaltige Energiepolitik einzuleiten. Erst mit dem Green Deal, den die aktuelle EU-Kommission forciert, ist das Bewusstsein für diese Notwendigkeit aus klimapolitischen Gründen gestiegen. Der Krieg gegen die Ukraine hat diese Thematik nun auch aus geopolitischen und geoökonomischen Gründen ins Zentrum der Diskussion geführt.

  • „Die UNO stuft den Krieg und seine Folgen als weltweit schlimmste humanitäre Krise ein“, berichtete orf.at am 12.3.2022 – über den Krieg im Jemen. Nun geht es hier natürlich nicht darum, die Entsetzlichkeit verschiedener Kriege zu vergleichen. Wenn jetzt aber ein europäischer Regierungschef nach dem anderen in den im Jemen Krieg führenden Staaten (Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate) vorstellig wird, um Ersatz für Energielieferungen aus Russland zu suchen, drängt sich die Frage auf: Fällt uns nichts Besseres ein, als Importe von einem Kriegstreiber-Despoten durch Importe von anderen Kriegstreiber-Despoten zu ersetzen?
  • Russische Flugzeuge dürfen aufgrund der Sanktionen gegen den Aggressor-Staat derzeit in der EU nicht landen. OK, es gibt Ausnahmen: Am 1. März durfte eine russische Transportmaschine Brennelemente für Atomkraftwerke (darunter Mochovce) in die Slowakei liefern. Ja, auch bei der Atomenergie, die uns derzeit als „grün“ und als Alternative zu russischem Erdgas verkauft werden soll, sind die EU-Staaten von Russland abhängig. Weniger Energie verbrauchen und diese regional und erneuerbar erzeugen? Klingt nicht schlecht, bietet aber leider viel weniger Potential als Großprojekte, um Steuergeld in korrupte Taschen umzuleiten.

Beispiel Landwirtschaft:

  • „Die Produktion stickstoffhaltiger Düngemittel hängt produktionsbedingt zu großen Teilen an der Verfügbarkeit und dem Preis von russischem Gas“, stellt der deutsche Bundesverband Agrarhandel fest. Dementsprechend fordert er, die Produktion von synthetischem Stickstoffdünger so weit wie möglich zurückzufahren, um massiv russisches Erdgas einzusparen, und großflächig auf biologische Landwirtschaft umzustellen. Ach nein, Entschuldigung, er fordert, den Green Deal und die Farm-to-Fork-Strategie aufzuweichen, jene EU-Programme, die zur Lösung der Klima- und der Biodiversitätskrise beitragen und die europäische Wirtschaft zukunftsfit machen sollen. In Deutschland schätzt das Umweltbundesamt übrigens die Kosten für die Trinkwasseraufbereitung aufgrund zu hoher Nitratbelastung auf 580 bis 767 Mio. € pro Jahr. Für den Großteil ist die übermäßige Stickstoffdüngung der Landwirtschaft verantwortlich. Das ist doch eine lohnende Verwendung des russischen Erdgases!
  • Durch die zu erwartenden Ernteausfälle in der Ukraine steigen die Futtermittelpreise in ganz Europa. Was tun? Vielleicht weniger Fleisch essen, wie es ohnehin aus Klima-, Umwelt-, Gesundheits- und Tierschutzgründen geboten wäre? Niemals! Wir finden doch sicher noch Land, das noch nicht für Futtermittel ausgequetscht wird. Voilà: Flugs wird „ausnahmsweise“ die Futtermittelproduktion auch auf „ökologischen Vorrangflächen“ erlaubt.
  • In Österreich präsentiert sich Ministerin Köstinger als Speerspitze dafür, der Artenvielfalt noch die letzte Brachfläche in der ganzen EU wegzunehmen (gesamt 4 Mio. Hektar). Dabei schreckt sie nicht davor zurück, dies mit dem Getreidebedarf in Nordafrika, der bisher aus der Ukraine und Russland gedeckt wurde, zu begründen. Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen – dieser alte Spruch gilt heute mehr denn je. Um davon abzulenken, müssen nun die ohnehin viel zu geringen Maßnahmen für die Biodiversität dran glauben.
  • Manche Lobbygruppen geben sich in ihrer Panik gar der Lächerlichkeit preis. So schreibt der deutsche Verband der Fleischwirtschaft: „Bei allen hergestellten pflanzlichen Lebensmitteln wird neben der eigentlichen Frucht auch ein deutlich größerer Teil an nicht essbarer Biomasse wie Stängel oder Blätter geerntet. Die Ernteprodukte selber werden weiterverarbeitet, etwa zu Mehl … Nur Nutztiere sind in der Lage, diese nicht essbare Biomasse zu verdauen und so hochwertiges Fleisch und Milch zu erzeugen.“ Die Fleischwirtschaft will uns also weismachen, die Schweine und Hühner würden mit Stroh ernährt, obwohl sie natürlich genau weiß, dass fast 60% des Getreides als Tierfutter ver(sch)wendet werden. Selbst die Milchkühe werden so gezüchtet, dass sie nicht mehr nur von Gras leben können, sondern Getreide und Soja benötigen.

Wir müssten nicht auf diese Weise reagieren. Wir könnten auch eine Reaktion wählen, die unseren Enkeln eine bessere Welt bereitet, nicht eine schlechtere. Die anderen Spezies nicht ihr Existenzrecht abspricht. Die ein gutes Leben für alle innerhalb der planetaren Grenzen möglich macht. Die Lösungen dafür sind bereits vorhanden und auch den Regierungen bewusst. So stellt der deutsche Landwirtschaftsminister Özdemir klar fest: „Weniger Fleisch zu essen, wäre ein Beitrag gegen Putin“ Der CEO des österreichischen Ölkonzerns rief im Fernsehen dazu auf, Energie zu sparen, wofür es unzählige Möglichkeiten auf allen Ebenen gibt. Die Frage ist jetzt, ob unser politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System noch zu ausreichend starker Selbstreform in der Lage ist, oder ob es krachend zusammenbrechen muss. Ersteres wäre klarerweise zu bevorzugen.