Wale und Delphine in europäischen Gewässern – ja, gibt es, und zwar nicht weniger als 33 Arten! Allerdings geht es ihnen in Europa keineswegs besser als in anderen Weltregionen, nicht selten sogar schlechter. Aufgrund einer Kombination verschiedener Gefährdungsfaktoren sind viele Wal- und Delphinpopulationen in Europa bedroht. OceanCare hat nun die führenden Wissenschaftler ihrer Disziplinen zusammengebracht, um die Situation der Wale und Delphine Europas in einem umfassenden Bericht darzulegen und Lösungsvorschläge für die Entscheidungsträger zu erarbeiten.
Lesen Sie untenstehend die heutige Pressemitteilung von OceanCare. Den gesamten Bericht finden sie unter https://www.oceancare.org/underpressure.
Wissenschaftler warnen:
Europas Wale und Delphine vom Aussterben bedroht
Zürich, 22. April 2021: Wer schreckliche Bilder von Delphinen in Fischernetzen oder von gestrandeten oder harpunierten Walen sieht, denkt zunächst an weit entfernte Regionen. Leider geschieht dies alles auch hier in europäischen Gewässern. Ein neuer Bericht führender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa bringt diese bittere und alarmierende Realität ans Licht.
33 Wal- und Delphinarten leben in den europäischen Meeresregionen: vom riesigen Blauwal im Nordatlantik über Delphine und Schweinswale in der Nordsee bis hin zu Orcas in der Straße von Gibraltar und Pottwalen im Mittelmeer. Diese europäischen Wale und Delphine gehören – zumindest auf dem Papier – zu den rechtlich bestgeschützten Wildtieren weltweit. In der Realität sind sie aber einer Vielzahl von Bedrohungen ausgesetzt, die sowohl ihr individuelles Wohlergehen als auch ihr Überleben als Populationen gefährden.
Zu diesem Schluss kommt der neue Bericht „UNDER PRESSURE“ („Unter Druck“) der Meeresschutzorganisation OceanCare. Für diesen Bericht fanden sich führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa zusammen, um einen umfassenden Überblick über den Erhaltungszustand der europäischen Wale und Delphine und über die Unzahl an Bedrohungsfaktoren zu erstellen.
Trotz ihres formalen Schutzstatus, insbesondere im Naturschutzrecht der EU und internationalen Artenschutzkonventionen, werden Wale und Delphine in europäischen Gewässern immer noch zu tausenden gejagt, stehen in dauerndem Konflikt mit der Fischerei und erleiden einen qualvollen Tod als Beifang oder in umhertreibendem Fischereigerät („Geisternetzen“). Sie leiden an permanentem Lärm durch Schiffe, Öl- und Gasexploration, Bauarbeiten und militärische Aktivitäten. Und ihr Lebensraum ist mit Unmengen an Plastik kontaminiert. Die Tiere sind mit chemischen Schadstoffen belastet, was ihr Immunsystem und ihren Fortpflanzungserfolg beeinträchtigt. Zu all diesen Bedrohungsfaktoren kommen nun noch die Auswirkungen des Klimawandels hinzu.
„UNDER PRESSURE“ betrachtet alle 33 Wal- und Delphinarten, die in zahlreichen regionalen Populationen in den Gewässern Europas leben. Akut vom Aussterben bedroht sind die Orca-Population in der Straße von Gibraltar, die auf unter 40 Individuen geschrumpft ist; die noch etwa 50 Gewöhnlichen Delphine im Golf von Korinth (Griechenland) und die weniger als 500 Ostsee-Schweinswale. Sie alle stehen in der höchsten Gefahrenkategorie der Roten Liste der IUCN: „vom Aussterben bedroht“. Dasselbe gilt für den Atlantischen Nordkaper mit seinen weniger als 400 Individuen, von denen die meisten allerdings auf der amerikanischen Seite des Atlantiks leben – in Europa gilt diese Art als praktisch ausgestorben.
„Wir Europäerinnen und Europäer rühmen uns gerne, fortschrittlich und umweltbewusst zu sein. Es mag daher verwundern, dass einige Arten in Europa stärker vom Aussterben bedroht sind als in anderen Teilen der Welt“, erklärt Nicolas Entrup, Co-Leiter Internationale Zusammenarbeit bei OceanCare. „Europäische Gewässer gehören zu den am stärksten verschmutzten und für Wale lebensgefährlichsten Meeresregionen der Welt. Wenn wir wollen, dass Wale und Delphine vor unseren Küsten überleben können, müssen die strengen Schutzregelungen auch konsequent umgesetzt und Verstöße streng geahndet werden. Wir haben schon viel zu lange zugewartet.“
„Es dürfte der Öffentlichkeit nicht bewusst sein, dass in den letzten 10 Jahren mehr als 50.000 Wale und Delphine in nordeuropäischen Gewässern gezielt getötet wurden: in den zu Dänemark gehörenden autonomen Regionen Färöer und Grönland, sowie in Norwegen und Island. Überdies gibt es für viele dieser Jagden keinerlei Management oder international festgelegte Quoten“, ergänzt Fabienne McLellan, Co-Leiterin Internationale Zusammenarbeit bei OceanCare, die ein Ende der Bejagung fordert.
Angesichts seiner umfassenden und eingehenden wissenschaftlichen Behandlung des Themas wird der Bericht „UNDER PRESSURE“ ein Standardwerk für die kommenden Jahre sein. Der Bericht soll als Richtschnur für politisch Verantwortliche in ganz Europa dienen, die die nötigen Maßnahmen setzen müssen, um Druck von Europas Walen und Delphinen zu nehmen und ihr Überleben zu gewährleisten.
„Zweifellos müssen wir unsere Bemühungen massiv verstärken, um Wal- und Delphinpopulationen und -arten nicht zu verlieren. Dazu gehört insbesondere auch ein besserer Schutz ihrer Lebensräume, wodurch zugleich die Gesundheit und Resilienz der europäischen Meeresgebiete insgesamt gestärkt wird“, schließt Fabienne McLellan, die Koordinatorin des Berichts.
Empfehlungen
Der Bericht enthält Empfehlungen der Autorinnen und Autoren der jeweiligen Kapitel sowie von OceanCare. Hier eine Auswahl:
- die gezielte Bejagung aller Wal- und Delphinarten in allen europäischen Staaten und Gebieten untersagen
- jene Fischereigerätschaft verbieten, die in besonderem Maße zur Tötung von Waltieren und zur Lebensraumzerstörung beiträgt
- keine weitere Suche nach Öl und Gas in europäischen Gewässern zulassen (nach dem Vorbild von Frankreich und Spanien – Letzteres hat erst vor wenigen Tagen einen solchen Beschluss gefasst)
- verminderte Geschwindigkeit für die Schifffahrt festlegen, wo immer dies möglich ist
- die gefährlichsten Substanzen und Materialien in Plastikverpackung verbieten
- Einsatz europäischer Staaten für ein neues internationales, rechtsverbindliches Abkommen über Plastik, das die gesamte Lebensdauer von Plastik abdeckt und u.a. die Neuproduktion von Plastik vermindert und Mikroplastik-Verschmutzung verhindert
- Meeresschutzgebiete mit Naturschutz-Managementplänen ausstatten, die auch ausreichend finanziert und umgesetzt werden