Der von Europas Entscheidungsträgern in den vergangenen Monaten demonstrierte Kniefall vor den Interessen der Ölindustrie könnte offensichtlicher nicht sein. Ob es die Suche nach Öl im kroatischen Teil der Adria oder in griechischen Gewässern ohne Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen ist, oder die Freigabe der Ölerschließung in den Gewässern der Kanarischen Inseln trotz intensivster Proteste hunderttausender Menschen, der Lokalregierung und zahlreicher Interessensvertreter der Wirtschaft – die Entscheidungsträger der Staaten, meist in Energie- und Wirtschaftsministerien, ebnen der Ölindustrie den Weg.
Die Frage, ob nach Öl gesucht und gefundene Ressourcen erschlossen werden dürfen, stellt sich da nicht. Lediglich die Frage, welche Ölfirma die Lizenz erhält, steht – manchmal noch – im Raum. Selbst wenn engagierte Beamte oder ein Umweltministerium dem Wildwuchs Einhalt gebieten möchten, es scheint, dass die Macht den Weg zum Ziel stets findet. Und auch wenn sich die Ölkonzerne dabei einen beinharten Konkurrenzkampf liefern, auf dem Weg zur Erschließung neuer Ölfelder im marinen Ökosystem folgen sie alle dem gleichen Grundsatz: Es gibt kein Tabu, kein Fleckchen auf diesem Planeten, das grundsätzlich von der Erschließung des „schwarzen Goldes“ ausgenommen werden sollte. Vorausgesetzt, man findet es. Und auch bei der Suche nach Öl ist Rücksichtnahme kein Thema. Es werden Schallkanonen eingesetzt, die wochen- oder monatelang alle 10 bis 15 Sekunden Explosionsschall mit bis zu 260 dB (!) aussenden. Ein akustischer Alptraum mit Folgewirkungen für die Meeresbewohner.
In diesem Konzept der Ölmagnaten gibt es im „Selbstbedienungsladen Planet Erde“ kein kollektives Welterbe, kein unantastbares Gemeingut, keinen Lebensraum, den wir anderen Lebwesen überlassen. Und es gibt anscheinend auch kein Risiko, das groß genug zu sein scheint, um nicht in noch tiefere Tiefen vorzudringen oder in Gewässer, in denen ein Ölaustritt den Tourismus auf Jahre ruinieren würde. Stets beteuert die Ölindustrie, man habe alles im Griff, es bestehe kein Risiko und im „Fall der unmöglichen Fälle“ hätte man alles unter Kontrolle.
Und besitzt die Öffentlichkeit die Dreistigkeit, sich den Interessen der an das „Ich bekomme was ich will“-Prinzip gewöhnten Ölindustrie entgegenzustellen – so geschehen z.B. auf den Kanarischen Inseln –, na dann entsenden die Entscheidungsträger, sprich Regierungen, das Militär. Bürgerbegehren werden juristisch bekämpft, Einsicht in Informationen verweigert und, und, und … Man schützt nicht die Interessen des Auftraggebers – in diesem Fall die Interessen des Wählers, der Regierungen wählt, in ihr Amt hebt und auch bezahlt.
Doch warum agiert dieser Wirtschaftszweig so arrogant und ignorant? Warum scheint er über sämtliche Regularien und Auflagen erhaben? Stellen wir uns ein fiktives Szenario vor, in dem wir lediglich versuchen die Worthülsen der europäischen Entscheidungsträger zu nutzen, die in Mikrofone gesprochen werden, wenn sie von Medienvertretern auf die letzten wissenschaftlichen Berichte des Weltklimarates angesprochen werden. Stellen wir uns also die Durchführung von transparenten Umweltverträglichkeitsprüfungen vor dem Beginn der Ölsuche vor.
Hierbei erhielte die Öffentlichkeit die Möglichkeit, die zusammengetragenen Fakten einzusehen und zu kommentieren. Es erfolgte ein umfassendes Analysieren und Abwägen der Kommentare, des Risikos, der unterschiedlichen Interessen der Bürger, aber auch von Fauna und Flora, die Prüfung nationaler, regionaler und internationaler Bestimmungen und … schließlich ein Entscheid.
Und nun nehmen wir an, es tritt das ein, was die Ölindustrie so fürchtet: Der Entscheid besagt, dass dem Ansuchen nicht stattgegeben wird. Oder er sieht den Ausschluss einiger Gebiete von der Suche nach Öl vor, definiert strikte Auflagen und so weiter.
Und was dann? Was wäre „ach so schrecklich“ an diesem Szenario? Dass die Auflagen für die Durchführung der Suche zu viel kosten und somit den Gewinn schmälern. Sie werden kein anderes Argument finden. In Anbetracht der Tatsache, welche Beträge bei der Ölgewinnung im Spiel sind, ist es müßig, auf diese Argumentation weiter einzugehen. Die Situation ist klar. Bleibt die Frage, was die zahlreichen der Ölindustrie den Weg ebnenden Entscheidungsträger Europas dazu bewegt, sich den Interessen der Ölindustrie so plump zu ergeben und die nicht erneuerbaren Schätze dieses Planeten so leichtfertig zu verschleudern und der Erhaltung mariner Vielfalt so wenig Beachtung zu schenken.
Doch die Rechnung geht nicht immer auf. Das „Problem“ sind mündige Bürger und Organisationen aus der Zivilgesellschaft, die ihre Meinung kundtun und Sorgen äußern. Und dann kommt der Zeitpunkt, an dem sich auch die Arroganz und Ignoranz verschätzt. So geschehen auf den Kanarischen Inseln. Den Protesten hunderttausender Menschen und der Lokalregierung folgend hat der spanische Ölkonzern Repsol nun den Rückzug angetreten. Um das Gesicht zu wahren, verweist man auf mangelnde Qualität und zu geringe, nicht lukrative Mengen. Egal. Der Jubel vieler Menschen ist groß, so auch die Sorgenfalten einiger weniger.
Stellen wir uns vor, dieses Beispiel wird salonfähig. Plötzlich findet auch das Interesse der Hunderttausenden Menschen auf den Balearen, in Kroatien und anderswo Gehör. Die Gewichtung der Stellungnahmen engagierter Umweltministerien wird jenen von Wirtschaft und Energie gleichgestellt und eine ernsthafte Abwägung findet statt. Der Ölindustrie werden Auflagen erteilt, Gebiete von der Erschließung möglicher Ölvorkommen ausgenommen und die Bürgerinteressen ernst genommen. Wenn diese Fiktion tatsächlich eintritt, erleben wir Bürgerpartizipation und einen transparenten Umgang mit Informationen. Dann hat die Energiewende eine Chance.
Es wäre eine Absage an das Konzept „Selbstbedienungsladen Planet Erde“.
Ein schöner Gedanke.
Nicolas Entrup, 42
Berater und Kampaigner für internationale Natur- und Artenschutzorganisationen wie z.B. OceanCare und NRDC.
Wien, Januar 2015